Fanatisch aus Überzeugung: Die Ultra-Fans der Bayern und Löwen bestimmen das Bild im Olympiastadion
Zuschauer sind das eine, Ultras das andere. Wenn am Samstag das Spiel zwischen dem FC Bayern München und dem TSV 1860 beginnt, werden 63000 Zuschauer im Rund des Olympiastadions Platz gefunden haben. Darunter sind auch 500 fanatische Ultras. Aber es werden diese Wenigen sein, die das optische und das akustische Bild im Stadion bestimmen: in der Nord- wie in der Südkurve organisieren jeweils die Ultras den ‚Tifo’, den Auftritt der Fans. Aufwändige Massen-Choreographien mit Pappschildern, blocklange Spruchbänder und meterhohe Schwenkfahnen gehören seit einiger Zeit genau so dazu wie ein mit Megaphon bewehrter Ultra, der pausenlos Gesänge und Schlachtrufe anstimmt.
Die italienische Ultra-Kultur ist erst Ende der Neunziger Jahre in Deutschland angekommen, aber in vielen Stadien hat sie schon die Macht in den Fankurven übernommen. Und das, obwohl es in den Medien, Vereinen und auch unter anderen Fans von Anfang an Vorbehalte gegen diese neue Fankultur gab. Zu sehr klang Ultra nach Randale, bengalischen Feuern und Unvernunft, zu nahe schien die Verwandtschaft zu den prügelnden Anhängern von Hellas Verona oder den rassistischen Fans der ‚Ultras sur’ von Real Madrid. Aber mittlerweile hat sich auch in den Stadion herumgesprochen, dass Ultras eben nicht gleich Ultras sind.
Christian Schulz ist einer der sieben ‚Capos’, die bei den Bayern-Ultras das Sagen haben. ‚Schickeria’ steht auf seiner roten Kapuzenjacke, so heißt die Ultra-Gruppe, der er angehört, aus dem halbgeöffneten Reißverschluss lugt Che Guevara hervor. ‚Wir wollen nicht die Macht im Stadion, wir wollen einen geilen Auftritt unserer Kurve, und dafür tun wir alles“, sagt der 25-jährige Politikstudent. Weil das eine aber das andere mit sich bringt, gibt es schon mal Ärger im Block. Es wurden sogar Gerüchte in Umlauf gebracht, normale Fans trauten sich nicht mehr in die Südkurve, aus Angst vor den Ultras. ‚Absoluter Schwachsinn. Wir kommen mit fast allen gut aus, und wenn es Probleme gibt, reden wir miteinander’, meint Schulz. Die ‚Schickeria’ begreift sich als eine Art Übergruppierung für alle ultra-orientierten Bayern-Fans. Obwohl es die Gruppe erst seit zwei Jahren gibt, hat die ‚Schickeria’ schon fast 300 Mitglieder. Der Jahresbeitrag liegt bei 20 Euro, zugelassen sind Fans ab 16 Jahren, der Altersdurchschnitt liegt bei ungefähr 23 Jahren.
Die Bayern-Ultras stehen ganz unten in der Südkurve, fast auf Höhe des Rasens. Der Blick auf das Spielfeld ist so ziemlich überall im Rest des Stadions besser, aber es geht ja nicht nur ums Zuschauen. ‚Man kann von hier unten mehr erreichen“, erklärt Michael Sturm, der Mann mit dem Megaphon, auch er ein ‚Capo’. Auf ihn schauen und hören sie. Wenn er die Hände hebt um einen Rhythmus vorzugeben, schnellen tausende Hände nach oben, bis hinaus unters Dach des Stadions.
Dort, ganz unten unter der Anzeigetafel, werden am Sonntag die Ultras des TSV 1860 stehen, nur eben in der Nordkurve. ‚Cosa Nostra’ nennt sich die Gruppe von 80 Sechzger-Fans, der martialische Name ist im Wortsinn gemeint: Unsere Sache. ‚Wir bewegen uns auf der Ultraschiene, aber dafür brauchen wir keine 400 Mitglieder, ein guter harter Kern reicht“, meint Leoni, der seinen wirklichen Namen nicht in der Zeitung sehen will, er hatte schon zweimal Stadionverbot. Solidarität unter Ultras, Vorbilder aus Italien, der ideologische, antikommerzielle Überbau – lauter Werte, die die ‚Schickeria’ für sich in Anspruch nimmt – das alles interessiert ihn nicht, sagt er, und wenn er das sagt, klingt er so trotzig und grantig, wie sich der ehemalige Löwen-Trainer Werner Lorant oft gab: ‚Wir wollen unseren eigenen Stil durchziehen und was andere machen, ist uns scheißegal.’
In der Welt der ‚Cosa Nostra’ zählt nur eines: der Verein. Wer Präsident ist, was der Vizepräsident macht und ob Dirk Dufner nun Sportdirektor bleibt, das ganze Löwen-Theater also, ist zweitrangig. ‚Die Mannschaft darf nicht absteigen, um nichts anderes geht es uns jetzt’ meint auch Ultra-Kollege Olli, ein 23-jähriger Metzger. Sicher, die Rückkehr in die alte Heimat, das Grünwalder Stadion, wäre schön, aber wenn die Bedingung dafür der Abstieg ist, können die 1860-Ultras darauf gut verzichten. ‚Von uns wünscht sich keiner den Abstieg, und wer das tut, ist kein echter Fan“ sagt Leoni, schon etwas heiser vor Wut. Er ist davon überzeugt, das die Spieler das Versprechen einhalten zu müssen, das sie der ‚Cosa Nostra’ bei einem der letzen Auswärtsspiele gegeben haben: Gemeinsam den Nichtabstieg zu feiern, beziehungsweise: saufen zu gehen.
Solch direkte Kontakte zum Verein kennt die ‚Schickeria’ kaum, und wenn es sie gab, waren sie nicht besonders erbaulich. Im vergangenen Sommer wollte ihr FC Bayern die ‚Schickeria’ wegen verschiedener Vorfälle ausschließen, sogar Stadionverbote sollte es geben. Vor einer Woche endete auch das 16. und letzte Ermittlungsverfahren von damals mit einem Freispruch. Das Verhältnis der Ultras zur ‚AG’, wie sie die Führungsspitze des FCB abfällig nennen, hat sich beruhigt.
Also kann die ‚Schickeria’ sich am Sonntag ganz auf den Kampf gegen die verhasste Nordkurve konzentrieren. Eine große Choreographie, vor oder zu Beginn der ersten Halbzeit, zusammen mit der Gruppierung ‚Club Nr. 12’ und eine eigene, kleinere Aktion in der zweiten Spielhälfte, mehr will Schulz nicht verraten: Die von gegenüber sollen es ja nicht wissen. Dort ist man noch schweigsamer, nur ‚dass wir uns für die roten Pisser schon was einfallen lassen’, mag Leoni preisgeben. Es scheint auf jeden Fall, als gäbe es am Sonntag was zu sehen, für die 63000 Zuschauer.
(Süddeutsche Zeitung vom 22.04.04)